Dienstag, 17. Mai 2016

Melanie Florence: "The Missing"

Ihre Freundin Carli ist nicht das erste verschwundene kanadische Mädchen indigener Abstammung, doch zum Entsetzen der Schülerin Feather wird auch Carli von den Behörden als „Ausreisserin“ eingestuft, um ihr, als ihre Leiche aufgefunden wird, den Stempel „Selbstmörderin“ aufzudrücken, ohne ihren Todesfall genauer zu überprüfen.
Kurz darauf verschwindet auch Carlis beste Freundin Mia, doch auch wenn es bis dahin keine weitere Spur von ihr gibt, kommt es alsbald zu einer Verhaftung: Denn ein Zeuge will gesehen haben, wie ein Mitglied der indigenen Bevölkerung, welches sich zudem als enger Vertrauter Mias herausstellt, Mia gewaltsam in sein Auto gerissen hat – doch Feather ist von dessen Unschuld überzeugt und enttäuscht, dass die Polizei auch nun, da kurz nach ihr eine ihrer Freundinnen verschwunden ist, keine Veranlassung sieht, Carlis Fall neu aufzurollen.
Auch wenn Carli bald tot aufgefunden war, will Feather Mia längst nicht verlorengeben; sie macht sich selbst auif die Suche nach Mia, versucht, ihre letzten bekannten Schritte zu rekonstruieren, um so herauszufinden, was mit ihr geschehen ist – und begibt sich auf diese Weise wissentlich selbst in Gefahr, denn sie ist sicher, dass Mia sowie Carli einem Verbrecher in die Hände fielen, dass ihr eigenes Verschwinden kaum Interesse nach sich ziehen würde, ist sie doch auch nur eine der „verfluchten Indianerinnen“.
Tatsächlich hat sie auch längst die Aufmerksamkeit des Täters auf sich gezogen, den die Entschlossenheit und der Kämpfergeist dieser kleinen „Schwarzdrossel“ absolut reizt …

Melanie Florence: „The Missing“°°°


„The Missing“ wird zwar verlagsseitig auch von Lormer publiziert, die schon Cristy Watsons von mir hier vorgestelltes „Cutter Boy“ veröffentlichten, aber „The Missing“ gehört nicht explizit zur „Sidestreets“-Reihe, welche aus kürzeren (<200 Seiten) Jugendbüchern besteht, die auch Lesemuffel zum Lesen animieren sollen und sich durch etwas einfachere Sprache auszeichnen. Thematisch werden dabei jeweils aktuelle Problematiken angesprochen.
Wie gesagt: „The Missing“ gehört nicht ausdrücklich zu diesen Titeln, könnte es aber, auch wenn die Sprache hier ein klitzekleines bisschen komplexer als in „Cutter Boy“ ist; die Altersempfehlung ist für beide Titel identisch (nämlich 14-17 Jahre), für nichtmuttersprachliche Englischschüler würde ich es so ausdrücken: „Cutter Boy“ ungefähr nach drei bis vier Jahren schulischen Unterrichts, „The Missing“ ein Jahr später. Soooo furchtbar weit liegt der sprachliche Anspruch hier also nicht auseinander.
       
In „The Missing“ tritt Feather als absolut authentische Ich-Erzählerin auf, die hier diverse Informationen erhält, welche (nicht nur) sie überraschen und vielfach fassungslos machen: Angesichts der erzählten Geschichte steht hier natürlich auch der in Kanada mitunter durchaus existente Rassismus und die Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung in Kanada sowie die Verbrechen an Angehörigen dieser Gruppierung, die niemals aufgeklärt werden und teils, vermutlich auch mal fälschlicherweise, gar nicht als Verbrechen klassifiziert werden. Unauffällig, aber nicht überlesbar, sind hier immer wieder die Statistiken eingebaut, die wiedergeben, nur wieviele Frauen indigener Abstammung in den letzten Jahrzehnten in Kanada verschwunden sind, wie viele hiervon verschwunden blieben und wie viele Mord zum Opfer fielen; tatsächlich haben Frauen dieser im Vergleich zur Anzahl der Weissen eher kleineren Gruppe eine 4x höhere Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden als weisse Frauen. Nichtsdestotrotz ist bei Letzteren die Aufklärungsquote höher.
„The Missing“ befasst sich fokussiert mit diesem Rassismus, weist aber auch auf Vorurteile gegenüber anderen Gruppen hin; in einer Nebenhandlung wird das „Zwangsouting“ zweier männlicher Schüler behandelt.
Im Allgemeinen ist die Handlung auch nicht auf „buwuhuu, alle sind so gemein zu uns“, sondern mehr in Richtung „hier muss etwas geändert werden“ ausgerichtet bzw. auch gen „was habt ihr denn für seltsame Vorstellungen?“. (Als Mia z.B. auf eine rassistische Äusserung ihnen gegenüber erwidert, man solle aufpassen, was man in ihrer Gegenwart sagt, denn man laufe Gefahr, von ihr mit Pfeil und Bogen angeschossen zu werden, ist Feather die Einzige, die völlig verdutzt reagiert, dass Mia überhaupt meint jagen zu können.)

Es geht wohl auch weitaus weniger darum, Mias Verschwinden aufzuklären als vielmehr darum all denen eine Stimme zu geben, deren Verschwinden eben allenfalls noch ein Aktenzeichen ist und nur noch von den Angehörigen von Interesse: Letztlich wird auch sehr klar, dass hinter Verschwinden Verbrechen stecken können, die einfach gar nie mehr aufgeklärt werden können und letztlich ist die Suche nach Mia für die Geschichte weniger von Bedeutung als der Umgang der Zurückgebliebenen mit dem spurlosen Verschwinden einer geliebten Person.
Als Leser weiss man von Anfang an und auch letztlich mehr als Mia, denn zwischen Mias Kapiteln finden sich immer wieder auch kurze, maximal zweiseitige, kursiv gesetzte Kapitelchen, welche die Gegenwart und die krude Gedankenwelt des Täters abbilden: Diese machen gleich deutlich, dass es sich hier um einen Serienmörder handelt, der es auf indigene Mädchen abgesehen hat und gleich zu Anfang wird eine Szene geschildert, die verrät, dass zumindest eines der Opfer, wobei es sich in jenem Fall vermutlich noch um Carli handeln dürfte, ihn tatsächlich kennt und in ihm einen Vertrauten zu sehen glaubt.
Dieser Handlungsfaden trägt natürlich extrem zur Spannung bei, da so auch das Misstrauen des Lesers geschürt wird und man sich später angesichts der erfolgten Verhaftung fragt, ob dies nicht tatsächlich der Täter sein kann; ohnehin hat man zu diesem Zeitpunkt wohl schon jede in der Geschichte vorkommende männliche Person kurz verdächtigt – und sich immer gefragt, was Derjenige denn für ein Motiv haben könnte, denn der Beweggrund des Täters, der Hintergrund seiner offensichtlichen Verachtung für ausschliesslich die weibliche, indigene Bevölkerung, bleibt auch unklar.

Insgesamt ist die Spannung hier zwar ständig latent präsent, ebenso wie auch die Unsicherheit, was sich hinter all den Verschwinden verbergen könnte, aber „The Missing“ wirkt dennoch nie übertrieben aufregend; jegliche Hysterie bleibt aus, die Handlung zeigt lediglich einige kalte Wirklichkeiten auf.

Wie auch schon „Cutter Boy“ ist „The Missing“ zielgruppentechnisch gemeinhin eher geschlechtsunspezifisch ausgerichtet; ein romantischer Aspekt kommt zwar auch in der Beschreibung von Feathers Beziehung zum Tragen, aber der driftet hier nie ins Kitschige ab und auch die Partnerschaft ist nicht frei von Konflikten bzw. Feather sieht sich unvermittelt mit Vorurteilen ihres Freundes konfrontiert und beginnt sich zu fragen, wie loyal dieser auch gegenüber seinen Freunden letztlich ist.
Zur Liebesgeschichte wird „The Missing“ aber zu keiner Zeit!

Ich mochte die realistische Umsetzung der „The Missing“-Geschichte, die zum Nachdenken anregte, ohne sich in Ernsthaftigkeit und Erschütterung zu verlieren, aber klar: Wer fröhliche Erzählungen schätzt, für den ist „The Missing“ als Lektüre ebenso ungeeignet wie übrigens auch „Cutter Boy“. „The Missing“ ist dann doch eher ein Buch für Jene, die auch in ihrer Lektüre nach der Realität streben.
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Melanie Florence: „The Missing“ – eine fiktive Geschichte, die traurigerweise so auch real sein könnte
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„The Missing“ von Melanie Florence, erscheint im August 2016
Amazon: Taschenbuch (7,50€ [160 Seiten])* / Bibliothekseinband (26,26€)*
Thalia CH: Taschenbuch (CHF 17,40)* / gebundene Ausgabe (CHF 34,90)*

Hinweis: Mir war ein Rezensionsexemplar im eBook-Format angeboten worden, wobei hier noch unklar zu sein scheint, ob dieser Titel letztlich auch dem Endkunden digital offeriert werden wird!

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