Sie sind Juden.
Sie sind Gejagte.
Als der erste Kindertransport gen England organisiert wird, soll dieser auch sie mit in das fremde Land nehmen, in welchem die Eltern ihre Kinder in Sicherheit wissen wollen.
Doch da gibt es auch ihn, den Jungen, der von seinem Vater im letzten Moment aus dem Zug gezerrt wird, weil der den Gedanken nicht ertragen kann, dass die Familie getrennt wird ebenso wie sie, das Mädchen, welches auf den letzten Drücker von ihrer Mutter, die meint, dass man kleinen Mädchen schon nichts Böses antut, gegen den älteren Bruder ausgetauscht wird, der eigentlich schon aufgrund seines Alters nicht mehr zur Teilnahme am Kindertransport berechtigt wäre.
Es gibt ihn, den Jungen, der am Down-Syndrom erkrankt ist und von dem die Eltern meinen, dass er auf ihre Unterstützung angewiesen ist und darum Deutschland nicht verlassen sollte.
Und da ist Peter, der junge Violinist, der Angst vor Fussbällen hat und später doch einmal den Metzgersladen des Vaters übernehmen sollte.
Mit seiner jüngeren Schwester Becca nimmt er am Kindertransport teil, während die jüngste Schwester Lilly, noch ein Baby, bei der Mutter verbleibt, die nach dem Tod des Vaters nicht bereit ist, sich von all ihren Liebsten zu verabschieden.
In England wird Becca von einer gutsituierten Familie aufgenommen, während Peter sich letztlich bei einem Bauerspaar wiederfindet, welches seine Arbeitskraft einfordert und keinen Hehl daraus macht, dass Peter für sie auch nur einer der Jerrys ist, schlimmer: einer der deutschen Juden und die Juden seien doch an Allem schuld.
Als der Krieg auch Grossbritannien ergreift, erinnert sich Peter in Hinblick auf sein gerettetes Instrument vor Allem daran, dass so viele Verwandte, Freunde und Bekannte in Berlin dereinst sagten, dass es vielleicht ja seine Musik sei, die irgendwann alle retten würde.
Deutlich erstarkt schliesst er sich den Widerständigen, die hinter den nun zum Stillstand gekommenen Kindertransporten standen, an und reist mit ihnen zurück nach Deutschland, nach Polen, zu den Nazi-Hauptquartieren, zu den Konzentrationslagern … und kämpft, um sein Leben, um das Leben der Inhaftierten und insbesondere auch um das seiner Mutter, seiner Babyschwester, seiner Freundin aus der Kindheit und all der Bekannten, von denen er gar nicht weiss, ob sie nicht längst schon tot sind.
Um die Freiheit.
Jana Zinser: „The Children’s Train – Escape on the Kindertransport“°°°
Dies ist ein Roman, der auf einer traurigen historischen Wahrheit beruht, auch wenn die Figuren in diesem Fall fiktional sind, obschon sich ihr Leben, hätten sie tatsächlich gelebt, exakt so abgespielt haben könnte.
Was will man zu so einem Buch sagen ausser dass man es lesen sollte? Heute dringender als zu jedem anderen Zeitpunkt; ich hatte es fast ein halbes Jahr als Rezensionsexemplar auf meinem Kindle: Ich hätte es definitiv eher lesen sollen.
Am Ende des Buches angelangt habe ich geheult. Noch immer.
Nachdem ich diverse Male schwer geschluckt hatte und auch ein paar Mal die Augen geschlossen habe, um nicht länger zu sehen, was ich grade gelesen hatte, habe ich endgültig zu heulen begonnen, als die Aussage getroffen wurde, dass dies sicherlich nicht der letzte Krieg dieser Art gewesen sei; fraglich wäre nur, wer beim nächsten Mal die Juden wären.
(Ich habe da ja so einen sehr klaren Verdacht und ich bete inständigst zu allen Göttern, an die geglaubt wird, dass ich ebenso falsch liege wie Derjenige, der überhaupt meinte, dass sich der Krieg wiederholen wird.)
Die gesamte Erzählung ist sehr bedrückend, nicht zuletzt, weil man selbst ja weiss, was damals passiert ist, wie es ausgegangen ist und man sich eben bewusst ist, was es bedeutete, wenn man im KZ angelangt in die zu den Duschen führende Reihe geschickt wurde, während ein Charakter sich bitterlich beklagte, nicht duschen zu dürfen, obwohl er doch nach der Fahrt in diesem übervollen Viehwaggon so sehr stinken würde ...
Auch anfangs schon dachte ich nur: „Bitte, bitte, bitte nicht… lasst ihn nicht bei euch, meldet ihn doch für den Kindertransport an; das ist die einzige Chance, die er noch hat!“, als die Familie des Jungen mit dem Down-Syndrom erklärte, er müsse bei ihnen bleiben; ohne sie würde er doch nicht klarkommen ...
Diese ohnehin absolut unsympathische Mutter, die ihre Tochter vom Zug zurückdrängte und ihren Sohn hineinschickte, welche dann eben auch noch erklärte, dass, ach, die Nazis schon nicht solche Unmenschen wären, dass sie kleinen Mädchen Schlimmes zuteilwerden liessen …
Das Nichtwissen war natürlich authentisch, ebenso wie das Nichtglaubenwollen, dass noch so viel Unfassbares geschehen könnte, aber Jahrzehnte später sitzt man als Leser eben da und denkt angesichts jeder 1938 geäusserten Hoffnung, dass es eh bald vorbei wäre: „Wenn ihr doch nur wüsstet…“
Peter ist in diesem Fall übrigens nicht der ausschliessliche Protagonist, vielmehr fungiert er als Bindeglied zwischen den diversen Figuren: Insgesamt werden die Biografien der Personen geschildert, die vormals sein Umfeld bildeten, ehe das Nazi-Regime es immer weiter auseinander riss.
Somit begleitet man Kinder nach England und erfährt, wie es ihnen dort ergeht, aber vor Allem wird auch erzählt, was den in Deutschland Zurückgebliebenen weiterhin widerfahren ist und insgesamt zeigt sich hier einfach ein Querschnitt durch alle Ansichten: Es gab die erklärten Nazis ebenso wie beispielsweise einen Sohn, der sich den Nazis nur anschloss, um die entsprechenden Erwartungen des Vaters zu erfüllen oder auch Nazis, die den Freitod wählten, mal weil sie ihr Handeln nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, mal (noch vor Kriegsausbruch), weil sie nicht bereit waren, Anderen noch weitere Schikanen anzutun. Es gab die Menschen, denen es egal war, was die Gesetzgebung in dieser Hinsicht meinte und die zu ihren jüdischen Freunden und Kollegen standen. Dann die, die einfach nur nicht auffallen wollten.
Es gab Menschen, die bereits Mitte der 30er davon überzeugt waren, dass es nur noch schlimmer werden würden, während Andere Ende der 30er festen Glaubens waren, dass das Schlimmste bereits hinter ihnen läge.
In „The Children’s Train“ begleitet man vornehmlich die jüdischen Kinder, deren Wege sich ab und an mit ihren früheren, nicht-jüdischen Bekannten kreuzen, welche inzwischen in den Reihen der Nazis marschieren, teils versuchen, sie möglichst lange zu „schützen“ (im Sinne von: am Leben lassen), sie teils aber auch nur zu gerne ermorden. Auf diese Weise weiss man letztlich von nahezu allen eingangs vorgestellten Personen, wie es ihnen ergangen ist.
Da der Erzähler aussenstehend ist und die im Fokus stehenden Figuren variieren, weiss man zudem häufig im Gegensatz zu den Personen, die sich noch fragen, was aus ihren Liebsten geworden ist, die Antwort zu genau. Mitunter ist dies auch belastend, wenn z.B. jemand seine Freude äussert, bald endlich seine Familie wiedersehen zu können, während man als Leser weiss, dass es ein solches Treffen nie mehr geben wird, da die Angehörigen nur kurz, nachdem man sie zum letzten Mal gesehen hatte, bereits sämtlich getötet worden waren.
Es ist ein sehr berührendes Buch und generell ist mir das sehr, sehr einfache Englisch aufgefallen, was auch zu einem kindlichen Ich-Erzähler bestens gepasst hätte.
So kann die Geschichte nun aber auch definitiv von den jüngeren Lesern verstanden werden; ich würde „The Children’s Train“ definitiv mitunter auch als Kinder-/Jugendbuch einstufen. Ich sehe da vor Allem auch eine ähnliche Zielgruppe wie bei z.B. „Damals war es Friedrich“*.
Was das Englische angeht, würde ich meinen, dass man als „Sprachfremder“ nach drei, maximal vier Jahren schulischen Englischunterrichts quasi gar keine Verständnisprobleme mehr haben dürfte.
Ich weiss zwar nicht, ob ich da überhaupt als Massstab geeignet wäre, aber wie gesagt: Selbst mir fiel die ausgesprochene Einfachheit der Sprache in diesem Fall extrem auf und das, obwohl ansonsten ja auch nicht grad die sprachlich herausforderndsten Bücher meinem Faible für reine Unterhaltungsliteratur entsprechen.
Ein wenig irritierend fand ich nur ein paar Namen: So endeten wenn dann auch die Nachnamen der deutschen Juden auf „man“ und nicht auf „mann“ und vor Allem hiess der „Musternazi“ in diesem Roman „Karl Radley“. Grade Letzteres hat mich vollends verwirrt, bis ich den Nachnamen sogar nachgeschlagen und ihn aber auch nur im englischsprachigen, vornehmlich im britischen, Raum gefunden habe: ja, vor allem, dass der „Vorzeigedeutsche“ Radley geheissen haben soll, fand ich bis zuletzt sehr irritierend.
Obskur erschien mir auch, dass es in der Anrede der eigenen Mutter zu deutlichen Wechseln gab, was aber auch daran liegen kann, dass ich es aus meinem Umfeld heraus und von mir gewohnt bin, dass da die Mutter nur mit einem einzigen Ausdruck angesprochen wird: Hier sagte wer schonmal erst „Mama“ und dann doch wieder „Mutti“. (Im Verlaufe der Erzählung gewann „Mutti“ übrigens gegenüber allen anderen Anreden noch die Oberhand.)
Peters Violine spielte hier definitiv die sachlichste Hauptrolle und ja, es gab auch einen Punkt, an dem ich ein wenig davon genervt war, dass mal wieder jemand sagte: „Mit deiner Musik wirst du uns bestimmt einmal das Leben retten können.“
Wir wissen ja alle, dass der Zweite Weltkrieg nicht plötzlich endete, nachdem jemand seine Geige ausgepackt hatte … aber tatsächlich wird die Geige zum Hilfsmittel des Widerstands und ja, indirekt werden Leben durch sie gerettet.
(Und als das passierte, fand ich es ja bis eben noch sehr albern, dass Peter die Geige zwar mit auf den Kindertransport genommen hatte, um auch ihre Sicherheit und ihren Verbleib bei ihm zu gewährleisten, sie aber offensichtlich dann auch auf den ganzen Fahrten im Namen des Widerstands mit sich herumschleppte. Erschien mir ja ein wenig widersprüchlich, die Geige dann doch immer wieder mit nach Deutschland und nach Polen zu bringen, doch ja, es gibt diesen ganz bestimmten Moment, an dem die Widerständigen ohne die Geige aufgeschmissen gewesen wären.)
Ob es die Überlebenschancen da generell erhöhen würde, in einer solchen Situation David Garrett an seiner Seite zu haben? Eher nicht, oder naja, kommt drauf an, ob er auch einen Müllwagen fahren kann. Denn in diesem Auf-Leben-und-Tod-Moment sind nur zwei Dinge vonnöten: sehr falsch Geige spielen und sehr selbstbewusst Müllwagen fahren können (auch Letzteres muss man gar nicht gut können).
Tja, kaum zu glauben, was für Talente im Widerstand nützlich sein können!
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“The Children’s Train – Escape on the Kindertransport” von Jana Zinser, veröffentlicht am 26.10.2015
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