Auch ein unmittelbar vor der Abreise stattfindender Einbruch in ihre Wohnung, in welcher sich Lo zum Tatzeitpunkt aufhält, lässt Lo nicht von der Reise zurückschrecken, die sie nun vielmehr als willkommene Abwechslung ansieht.
Am Hafen angelangt, ist Lo zunächst von der geringen Grösse des Kreuzfahrtschiffs überrascht, bei dem es sich offensichtlich eher um eine riesige Privatjacht handelt: Neben dem Eigentümer und dessen Frau begleiten nur wenige reiche Gäste die Fahrt; in erster Linie ist dies ein Werbetrip für die Handvoll anwesender Journalisten und Fotografen.
Lo, die in Kabine 9 untergebracht ist, leiht sich abends spontan Mascara bei ihrer Zimmernachbarin aus Kabine 10. Später hört sie laute Geräusche aus der benachbarten Kabine und meint Zeugin zu sein, wie offensichtlich eine Leiche aus Kabine 10 heraus ins Meer geworfen wurde.
Aber als sie den Sicherheitsdienst verständigt und dieser schaut, was dort vorgegangen sein könne, ist in Kabine 10 nicht nur alles in Ordnung, sondern Kabine 10 ist völlig leer. Die Kabine sei auch nie belegt worden und niemand kann sich erinnern, eine Frau gesehen zu haben, auf welche Los Beschreibung ihrer Zimmernachbarin zutrifft …
Lo ist sich jedoch sicher, mit dieser Frau interagiert zu haben und dass diese, sofern sie nicht auf dem Schiff ist, ermordet und von Bord geworfen worden sein muss, denn immerhin befindet sich die Aurora Borealis längst auf dem offenen Meer – und das wiederum bedeutet, dass der Täter noch an Bord sein muss… und spätestens nun, da Lo verzweifelt versucht, die Existenz ihrer Zimmernachbarin zu beweisen und deren Identität herauszufinden, weiss, dass es eine Zeugin gibt.
Oder ist Lo durch den erlebten Wohnungseinbruch doch traumatisiert und sieht einfach nur Gespenster?
Ruth Ware: „The Woman in Cabin 10“°°°
“The Woman in Cabin 10” wird von Lo selbst erzählt; wer also die Ich-Perspektive so rein gar nicht und erst recht nicht in Thrillern mag, ist mit diesem Buch gänzlich falsch bedient.
Das Grundthema „grad noch auf einer Kreuzfahrt, plötzlich weg“ liess mich zudem gleich an Fitzeks „Passagier 23“* denken, aber der Plot ist hier doch komplett anders; gleich ist eigentlich nur der Handlungsschauplatz des Kreuzfahrtschiffs, welcher hier wiederum jedoch auch bereits insofern anders ist als dass es sich bei der „Aurora Borealis“ grundsätzlich eher um eine Yacht handelt und nicht um einen der typischen, schwimmenden Klötze.
Ich mochte den so dargestellten Handlungsort hier übrigens insofern sehr gerne als dass man als Leser so alle Mitreisenden eben vorgestellt bekam und im Rahmen von Los „vielleicht gehörte die Frau aus Kabine 10 ja zur Crew?“-Touren auch die ohnehin wiederum eher übersichtliche Mannschaft zumindest kurz vorgestellt bekam. Das machte das „Böse“ greifbarer, denn mutmasslich musste es sich ja bei einer der anwesenden, bekannten Personen um den Täter handeln, sofern es einen solchen denn geben würde. Es schien sehr unwahrscheinlich, dass sich wer angesichts des eh begrenzten Platzangebots auf dem Schiff längerfristig versteckt halten haben würde können und plötzlich noch der oder die grosse Unbekannte auf der Bildfläche erschiene.
Recht bald werden die Kapitel immer wieder von Diskussionen unterbrochen, die offensichtlich auf der Facebook-Pinnwand von Los Freund Judah geführt werden, der sich hier zunächst erkundigt, wer zwischenzeitlich von Lo gehört hat, da sie sich bei ihm bislang nicht gemeldet habe.
Diese Aussagen haben mich zuweilen schon ein wenig irritiert, da Lo es anfangs durchaus gelungen zu sein schien, sich in ihrem Umfeld zu melden, auch wenn es später auf hoher See doch arge Probleme damit gab, eine Netzverbindung aufzubauen. Doch zwischendurch klang es von Los Seite her eben doch sei, dass sie nun die ein oder andere Nachricht hatte verschicken können, so dass in mir der Eindruck erweckt wurde, die Verbindung müsste vom Schiff aus manipuliert worden sein, was dafür spräche, dass Los „Zeugenaussage“ eben doch authentisch war.
Während ich anfangs durchaus der festen Überzeugung war, Lo habe die gesamte geschilderte Szenerie tatsächlich so erlebt, wurde ich nämlich im weiteren Verlauf von Los Erzählung doch unsicherer, inwiefern sie glaubwürdig war und ob es nicht doch möglich wäre, dass sie sich alles nur eingebildet hätte.
Ich fand es bemerkenswert, dass ich der Ich-Erzählerin eingangs mein Vertrauen recht bereitwillig zu schenken bereit war anstatt dass sie es sich nach längerem Kennenlernen erst hätte verdienen müssen, später aber doch an der Zuverlässigkeit Los zu zweifeln begann. (Persönlich mag ich es ja auch recht gerne, wenn Figuren nicht einfach von böse zu gut werden, sondern wenn man am Ende eines Romans auch mal sagen kann: „Also am Anfang mochte ich XYZ ja echt gerne, aber im Nachhinein…“.)
Ich war also ein bisschen zerrissen: Zweifelte ich nun an Lo, aber welchen Sinn ergab in diesem Fall denn Judahs virtuelle Suche nach Lo? Und wieso sollte eine Fremde an Bord gewesen sein, die man dann von Bord geschmissen haben sollte? Und wenn dem so war: Wieso hätte Lo als gefährliche Zeugin angesehen werden sollen, wenn man doch ohnehin auf ihr vermeintliches Trauma verweisen konnte und sonst niemand etwas vom Verbrechen mitbekommen hatte?!
Zwischendurch brachte ich die beschriebene Frau aus Kabine 10 mit einer anderen Romanfigur in Verbindung; allerdings schien da überhaupt kein logischer Zusammenhang zu bestehen und mein Verdacht war auch sehr vage.
Ich hatte vor wenigen Tagen noch mit Micha, die auf ihrem Blog jüngst Ruth Wares „In a Dark, Dark Wood“ vorgestellt hatte, darüber gesprochen und meine Mutmassung in diesem Zusammenhang so beschrieben, dass es im übertragenen Sinne so gewesen wäre, als sei beiläufig erwähnt worden, jemand möge klassische Musik und später hörte eine andere Figur tatsächlich ein klassisches Stück.
Der diesbezügliche Hinweis, der im Original natürlich absolut nichts mit Musik zu tun hat, entpuppte sich letztlich tatsächlich als ein elementarer, bringt den Leser selbstverständlich aber nur wenig weiter, wenn er sich keinen weiteren Zusammenhang zwischen den Figuren denken kann. Klassische Musik kann ja jeder hören. (Psychisch neben der Spur sein kann allerdings auch jeder.)
Ich war also recht zwiegespalten, was hinter dieser ganzen Sache stecken würde: Vielleicht sah Lo ja tatsächlich auch nur irgendwelche Gespenster, während etwas völlig Anderes von irgendwem vertuscht wurde. Aber was? Wieso, weshalb, warum?
Aber ich wollte unbedingt wissen, was nun tatsächlich hinter all dem steckte; die Geschichte hat mich definitiv noch mehr gefesselt als Simon Woods „The One That Got Away“ und den Roman fand ich ja schon echt gut!
_____
Ruth Ware: „The Woman in Cabin 10“ – tolle Spannungslektüre mit geschickt eingewobenen Hinweisen, die zunächst eher verwirren als aufklären können!
_____
„The Woman in Cabin 10“ von Ruth Ware, erscheint am 30.06.2016
Amazon: Kindle eBook (9,37€)* / gebundene Ausgabe (13,83€ [352 Seiten])*
Thalia CH: gebundene Ausgabe (CHF 24,90)*
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen