Dienstag, 8. März 2016

Cristy Watson: "Cutter Boy"

Nicht nur in der Schule ist Travis ein Einzelgänger, der zudem insbesondere von seinen männlichen Mitschülern wiederholt getriezt wird, auch innerhalb seiner Familie fühlt er sich eher ausgeschlossen: Besonders, seit seine älteren Zwillingsschwestern zum Studium fortgezogen sind, merkt er, der sich nach einem solchen sehnt, dass ein echtes Familienleben nicht weiter weg sein könnte. Travis‘ Mutter ignoriert ihn weitgehend und auch das Verhältnis zum Vater entspricht eher einer oberflächlichen Bekanntschaft, wobei das Auftreten der Mutter ihn weitaus mehr bedrückt und er sich regelmässig fragt, womit er diese offensichtliche Verachtung der Mutter verdient hat.
Unter stets getragenen langen Ärmeln verbirgt er zahlreiche Narben, die er sich selbst zugefügt hat, nachdem er das Ritzen als eine Art Ventil für all seine aufgestauten negativen Gefühle, Sorgen und Ängste entdeckt hat.

Als Chyvonne, die basketballbegeisterte neue Mitschülerin, aufgrund ihres gewählten Kurslevels und Überschneidungen in den Stundenplänen, dem ansonsten nur aus Jungs bestehenden Sportkurs, den auch Travis besucht, zugeteilt wird, fordert ihr Lehrer Travis auf, mit Chyvonne zu trainieren. Chyvonne geht absolut vorurteilsfrei und offen auf Travis zu, setzt sich später im gemeinsamen Englischkurs auch gleich neben ihn, was dazu führt, dass sie für ein Unterrichtsprojekt einander als Partner zugeteilt werden.
Im Rahmen dieses Projekts wird Travis zudem auf Papierschneidekunst aufmerksam, die ihn zutiefst fasziniert und zu der er sofort eine Verbindung aufbaut: die teils filigranen Kunstwerke sind immerhin ebenso vorsichtig geschnitten wie er das mit sich selbst auch tut. Zudem entwickelt sich zwischen Travis und Chyvonne eine Freundschaft und zum ersten Mal fühlt sich Travis tatsächlich beachtet und gar wertgeschätzt, doch wie nah kann er Chyvonne an sich heranlassen, ohne ihr seine Narben zu offenbaren, die sie doch nur wieder von ihm fernhalten würden?!
Und wird ihm noch (endlich!) offenbart werden, wieso er daheim solche Nichtbeachtung erfährt? …

Cristy Watson: „Cutter Boy“°°°


„Cutter Boy“ gehört zur Reihe der „Sidestreets“-Bücher, deren Konzept darin besteht, dass sie nicht allzu lang und auch sprachlich nicht allzu schwer verständlich sind, so dass auch Lesefaule zum Schmökern animiert werden. Quasi „wenn man schon ­warum auch immer- was lesen muss, dann soll’s einem bitte auch ein bisschen einfacher gemacht werden“-Bücher.
Damit sind diese Bücher zudem ideale Lektüren für Sprachneueinsteiger, Sprachwiedereinsteiger, Sprachauffrischer, Sprachintensivierer … eben all jene, die (besseres) Englisch lernen möchten, wobei sich die Sidestreets-Bücher generell schon eher an die jüngeren Leser; ich würde sagen: Schüler ab Mittelstufe; richten.

„Cutter Boy“ fokussiert nun Travis, der seine Geschichte auch aus der Ich-Perspektive wiedergibt, und somit auch die männlichen Leser ansprechen dürfte; ein „Mädchenbuch“ ist es nicht, sondern doch sehr unisex: Travis‘ Geschlecht spielt hier eigentlich auch gar keine Rolle; man könnte Männlein und Weiblein problemlos gegeneinander austauschen.
Der Freundschaft, die sich zwischen Chyvonne und Travis entwickelt, kann eine gewisse romantische Komponente zwar nicht abgesprochen werden, aber mehr in dem Sinne, dass sie einander sehr zugetan sind und nicht so ‚hömma, die sind ja offensichtlich total verschossen‘.

Im Zentrum der Geschichte steht klar Travis‘ selbstverletzendes Verhalten, sein Seelenleben, und auch, wenn „Cutter Boy“ definitiv nicht für‘s Ritzen wirbt, wirbt die Geschichte doch für mehr Verständnis und unterstützt einen auch als aussenstehenden Leser darin, Travis‘ Ritzerei nachvollziehen und verstehen zu können, was ihn so handeln lässt.
Travis ritzt sehr bewusst und reflektiert auch sehr genau, wodurch dieser Drang zum Griff nach der Rasierklinge in ihm getriggert wird: Ihm ist klar, dass das Benehmen seiner Mutter ihm gegenüber in diesem Zusammenhang ein sehr heikler Punkt ist, dass ihn diese Missachtung verletzt, aber dass er der Abgestumpftheit der Mutter hilflos ergeben gegenübersteht.
Ich fand es beeindruckend, mit welcher Komplexität und Intensität die Thematik des Ritzens in dieser eben nicht auffällig langen Geschichte behandelt werden konnte; man sah schon sehr tief in Travis hinein.

Was das Verhalten der Mutter betraf, so hatte ich recht früh einen bestimmten Verdacht, worin dieses begründet liegen könnte, ohne dass es allerdings spezifische Hinweise zwischen den Zeilen gegeben hätte. Meine Annahme wurde später auch bestätigt; es wird gegenüber Travis, allerdings erst sehr weit am Ende des Buchs, offenbart, was genau seine Mutter ihn so ignorant behandeln lässt.
Wie gesagt: Kurz darauf findet die Erzählung bereits ihr Ende und im Allgemeinen kann ich „Cutter Boy“ auch nur als eine Art Momentaufnahme bezeichnen, die das einsame Leben eines sehr traurigen Jungen abbildet. Vermutlich auch dadurch, dass am Ende doch noch Einiges offen bleibt, die Geschichte recht abrupt abbricht und auch kein „Vier Jahre später“-Epilog verrät, wie es Travis weiterhin ergangen ist, hat mich „Cutter Boy“ noch nachdenklicher zurückgelassen als ohnehin schon.

Neben der Authenzität der Handlung gefiel mir zudem sehr gut, dass die Hauptfigur hier männlich war und zudem mal eben nicht der Sunnyboy und Kapitän der Footballmannschaft, eher ganz im Gegenteil. Ich mochte wirklich, dass in diesem zeitgenössischen Jugendroman auch mal ein eher depressiver Kerl abgebildet wurde, ohne dass er gleich als potentieller Amokläufer beschrieben wurde, sondern einfach eben ein eigentlich ganz normaler Junge sein durfte.

Als ganz spezielle Zielgruppe sehe ich hier neben denen, die einfach nur einmal einen tieferen Einblick in eine ritzende Persönlichkeit erhalten möchten, auch abseits des SVV-Themas insbesondere diejenigen, die sich eben auch öfters völlig allein (gelassen) fühlen, wobei ich es in einer depressiven Akutphase nicht unbedingt lesen würde – obschon „Cutter Boy“ zumindest mit einem kleinen Hoffnungsschimmer daherkommt, denn mit der Kunst entdeckt Travis ja zumindest eine weitere Art, seinen Emotionen so Ausdruck zu verleihen  und sich mit seinen eigenen Empfindungen auseinanderzusetzen.

„Cutter Boy“ ist seit drei Wochen bereits als Taschenbuch erhältlich; eine eBook-Ausgabe steht noch aus: Mir war dieses Buch als Rezensionsexemplar zwar bereits im eBook-Format zugestellt worden, aber eine tatsächliche eBook-Veröffentlichung dieses Titels ist meinen letzten Informationen nach erst für September diesen Jahres geplant.
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Cristy Watson: „Cutter Boy“ – unaufgeregte, einfache Jugenderzählung mit einem doch intensiv umgesetzten, spannenden Thema!
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„Cutter Boy“ von Cristy Watson, erschienen am 12.02.2016
Amazon: Taschenbuch (12,59€ [176 Seiten])*
Thalia CH: Taschenbuch (CHF 14,90)*   

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