Mittwoch, 20. Juli 2016

Phil Harvey: "Show Time"

Im Spätsommer lassen sich vier Männer und drei Frauen, einander bislang völlig unbekannt und ohnehin grundverschieden, für sieben Monate, nur mit dem allernötigsten Basismaterial ausgestattet, auf einer abgelegenen, unbesiedelten Insel inmitten des Oberen Sees aussetzen.
Diese sieben Menschen sind die Kandidaten einer weltweit übertragenen Realityshow und jeder von ihnen wird 400.000 Dollar erhalten, wenn er die Monate auf der Insel übersteht. Die Produktionsfirma wird sich zu keinem Zeitpunkt einmischen und sollte jemand der Kandidaten Hilfe von aussen anfordern, verwirkt er sich damit jedweden Honoraranspruch.

Zunächst leben die Teilnehmer eher nebeneinander her, doch je näher der Winter rückt, desto erforderlicher sind Zusammenarbeit und Zusammenhalt. Es ist vorhersehbar, dass die mitgegebenen Vorräte eines jeden Einzelnen bald nur noch als Notvorrat dienlich sein können, dass angelegte Vorräte nur dazu dienen können, das Überleben zu sichern und dass der Hunger bald extrem an ihnen nagen wird und sie alle körperlich stark abbauen werden …
Was ihnen nicht bewusst ist, dass die Produktionsfirma auf exakt dieses extreme Konfliktpotential setzt, erst recht, als die Zuschauerzahlen schon bald bereits zu sinken beginnen und würde es zu Gewalttätigkeiten innert der Gruppe kommen oder jemand live verhungern, wäre es für die Produzenten der „Idealfall“.

Auch von politischer Seite darf im Notfall nicht eingegriffen werden, da man zum Einen die Kandidaten einen wasserdichten Vertrag unterschreiben liess, der sie auf jegliche Gefahren aufmerksam machte, und zum Anderen hat auch die gesamte Show einen politischen Hintergrund: Sie ist aufgesetzt worden, um die Bevölkerung von einem geplanten Krieg abzulenken, der sonst von starken Protesten und Widerständen begleitet werden würde.
Von daher wird erst recht auf ein Ausarten der Show gesetzt, damit die Bevölkerung gebannt vor den Fernsehern sitzt.

Den Menschen auf der Insel ist allerdings ebenfalls klar, dass die über Monate angesetzte Show von den Zuschauerzahlen abhängig ist und dass deren Höhe wiederum von ihrem Unterhaltungswert abhängt. Ein von ihnen daraufhin getürkter Spannungsmoment, der die besondere Achtsamkeit aller erfordert, damit seine Falschheit nicht von Kameras und Mikrofonen übertragen wird, wird jedoch zum Selbstläufer und entwickelt sich zu einem besonders falschen Spiel – noch ehe der harte Winter einbricht und all ihre Reserven von ihnen abverlangt. …

Phil Harvey: „Show Time“°°°


„Show Time“ beginnt bereits mit einem Prolog, der spielt, als die Show bereits stark vorangeschritten ist: Hier findet sich der Leser an der Seite von Zuschauern des Formats wieder, die erschüttert beobachten, wie sich ein Mitglied der Gruppe im tiefsten Winter aufmacht, um offensichtlich den gefrorenen Leichnam eines anderen Kandidaten zu Verzehrzwecken herbeizuholen. Diese Szene endet mit der Frage, ob die Teilnehmer wirklich so weit gehen werden … 

Als Leser ist man also von Anfang an gewappnet, dass es später sehr extrem werden wird und dass nicht alle überleben werden. In der Eingangsszene bleiben auch noch einige Kandidaten namentlich ungenannt, so dass zu befürchten ist, dass es nicht nur diesen einen Todesfall gegeben haben könnte.

Nach dem Prolog wird man an den Anfang der Show befördert, ab der Ankunft der Kandidaten auf der Insel, und bekommt fortan erzählt, was sich auf der Insel abspielt, inklusive der Dinge, die nicht von Mikros und Kameras eingefangen werden können. Man weiss also immer ein wenig mehr als der gemeine Fernsehzuschauer, wenn auch nicht viel, und seltener wird auch zu den Showproduzenten gesprungen, so dass man im Gegensatz zu den Kandidaten weiss, wie die Show bei den Zuschauern ankommt und wo dem Produktionsbetrieb ggf. der Schuh drückt.
Hauptsächlich bekommt man als Leser aber hauptsächlich vom Geschehen auf der Insel berichtet; dabei ist die Erzählstimme sehr aussen vor und eher nüchtern wiedergebend. Einen tiefen Einblick in auch nur einen Kandidaten erhält man hier nicht; „Show Time“ ist wirklich wie eine geschriebene Fernsehshow.

So weit man diesen als Fokus bezeichnen kann, steht Ambrose im Zentrum der Beobachtungen, jener Kandidat, der sich im Prolog zum Leichnam eines „Teamkamerads“ aufmachte, und der sich als exzessiver Spieler in dubiosen Kreisen schwerverschuldet hat und mit der Showbezahlung einen zweifellos kriminellen Gläubiger abbezahlen will.
Grad am Beispiel Ambroses zeigt sich im Verlaufe der Geschichte deutlich, dass die Insel in allen Kandidaten das „Ursprüngliche“ hervorruft und irgendwann die Hemmungen verloren werden, die einen zuvor gewisse Seiten von sich nicht zeigen lassen liessen. Dies führt zu Beichten, die einen befremdet zurücklassen (wenn jemand gesteht, seine Teenietochter zu verabscheuen), oder auch zur Verwunderung, welcher Kandidat von Anfang an wohl absolut authentisch war.
Auffällige Verhaltensänderungen sind hier aber nicht zu beobachten; man erfährt tatsächlich nur in äusserst plastischer Weise, wer von Grund auf wie gestimmt ist und kann sich dadurch ein Bild der einzelnen Teilnehmer machen. Dabei rangiert die Palette eigentlich nur zwischen blassen und unsympathischen Figuren. Den einen grossen Sympathieträger gibt es hier überhaupt nicht.

„Show Time“ wird als dystopischer Roman bezeichnet; es finden sich auch keinerlei Angaben, zu welcher Zeit die Geschichte spielt und das Erschreckende ist, dass man zwar glauben will, dass dies nur ein düsteres Zukunftsszenario ist, man aber weiss, dass sich die Handlung exakt so auch heute abspielen könnte. Hier wird das „Brot und Spiele“-Prinzip bis ins Letzte verfolgt, während man im Vorfeld von Europameisterschaft oder Olympischen Spielen heutzutage ja auch schon überlegt: „Ah, da werden bestimmt wieder irgendwelche üblen Gesetze und Regelungen schnell durchgeboxt, die während dieser Zeit kaum Einen hinter’m Ofen hervorlocken.“ 

Dass es hier um „effektive Kriegsführung“ geht, ist natürlich schon die Spitze des Eisbergs und ein absurder Ernst zeigt sich in einem kurzen Gespräch, in welchem die Showmacherin bekundet, dass Kriege gut sind und warum es Kriege geben müsse.
Die Absurdität erreicht ihren Höhepunkt, als es plötzlich „böse“ sein soll, den höchstwahrscheinlichen Sterbeprozess von einigen Showkandidaten zu zeigen, die Teil eines Formats sind, welches vom „guten“ gewalttätigen Durchmarsch durch ein fremdes Land und fraglos damit verbundenen Morden ablenken soll. Aber während die Kandidaten nun tatsächlich um ihr Überleben kämpfen, geht es für die Produktion lediglich um den Showerfolg und eine eventuelle zweite Staffel sowie für die politische Seite um die Ablenkung der Bevölkerung. Von vornherein sind die sieben Showkandidaten als Kollateralschäden eingeplant und letztlich stellt sich die Frage, ob und wer tatsächlich bereit ist, sie zu opfern. Oder auch sich zu opfern, denn irgendwann gelangen auch die Kandidaten an den Punkt, an dem sie zu überlegen beginnen müssen, ob sie nicht doch um Hilfe flehen und unbemittelt wie zuvor, aber lebend, die Insel verlassen oder ob sie für 400.000 Dollar tatsächlich zu sterben riskieren wollen.   

Ich fand „Show Time“ nun auf nachdenklich machende Weise gleichermassen unterhaltsam und bedrückend; diese Fiktion zeigt zu viel Realität auf, als dass ich es als dystopisches Schreckensszenario empfinden könnte. Dazu war in der Geschichte zu viel vom „Heute“ und grade dadurch hat mich dieser Roman aber sehr beeindruckt!
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Phil Harvey: „Show Time“ – eine allzu authentische Fiktion, die auch heute schon Wirklichkeit werden könnte!
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„Show Time“ von Phil Harvey, veröffentlicht im Frühjahr 2012
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